(Januar 2017)- Vorträge im Rahmen des deutsch-französischen Seminars.
- Januar 2017: Im Rahmen des Gedenktages für die Opfer der Shoah nahmen je eine deutsche und eine französische Delegation gemeinsam an einem Seminar in Orléans teil.
Donnerstag 26. Januar 2017 – Lycée Duhamel du Monceau – Pithiviers
Denis Peschanski „Formen der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg am Beispiel der französischen Internierungslager“
Donnerstag, 26. Januar 2017 – Lycée Duhamel du Monceau – Pithiviers
Der Vortrag von Denis Peschanski wurde im Zusammenhang mit dem 27. Januar, dem Welttag des Gedenkens an die Shoah und der Verhütung von Völkermord, gehalten.
Für Denis Peschanski ist die Erinnerung an ein Ereignis nicht statisch, sondern selbst Teil der Geschichte und unterliegt stets Entwicklungen.
Das Beispiel der Erinnerung an die Anschläge vom Januar und November 2015 ist in dieser Hinsicht interessant. Während der Demonstration vom 11. Januar nahm sowohl die Menge der Demonstranten als auch die Staatsoberhäupter Bezug auf die Französische Revolution und ihre Werte… So zeigt die Erinnerung an die Französische Revolution in der Gegenwart die Entschlossenheit der Demonstranten angesichts von Terroranschlägen.
Die Erinnerung wandelt sich mit der Geschichte und beeinflusst deren Entwicklung.
Ziel des Vortrags war es, auf der Grundlage der Erinnerungskultur der Internierungslager als Teil der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg Konzepte und ein Instrumentarium zur deren Analyse herauszuarbeiten.
Verwahrungsvollzug in Frankreich: der historische Hintergrund
Die Ausgrenzung eines Teils der Bevölkerung erfolgt auf zwei Arten und vollzieht sich über verschiedene politische Regime:
– Gerichts- und Polizeiverfahren gegen Verbrechen, die begangen oder angeblich begangen wurden, sehen Freiheitsstrafen, Gerichtsverfahren, Freiheitsstrafen vor.
– Der Verwahrungsvollzug zwischen 1938 und 1946 richtet sich nicht gegen Personen, die Verbrechen oder Vergehen begangen haben, sondern gegen Personen, die potenziell gefährlich sind, und diese interniert, zum Beispiel in Pithiviers und Beaune-La-Rolande, auch wenn sie nichts Verwerfliches getan haben.
Die Internierung kann einige Tage oder mehrere Jahre dauern. Zum Teil führt sie zur Abschiebung. Mehreres ist hierbei hervorzuheben: das Ausmaß dieser Maßnahme (600.000 Menschen waren zwischen 1938 und 1946 betroffen) sowie seine Dauer, denn sie beginnt 1938 während der Dritten Republik, wird nach der Niederlage vom Juni 1940 und unter dem autoritären Vichy-Regime, aber auch ein Jahr lang nach 1945, d.h. nach der Befreiung, in Friedenszeiten und während des demokratischen Wiederaufbaus fortgesetzt.
In diesem Zusammenhang ist es unmöglich, ein kollektives Gedächtnis der Internierung aufzubauen. Vier Haupterklärungsmuster können herausgearbeitet werden:
– die Logik des Ausnahmezustandes zwischen November 1938 und Juni 1940: Diese gilt auf dem Hintergrund der endenden Dritten Republik, die angesichts der Kriegsgefahr verteidigt werden soll. Das Dekret vom 12. November 1938 erlaubt die administrative Internierung von „unerwünschten Ausländern“, z.B. spanischen Republikanern, die aus ihrem Land vor Franco über die Pyrenäen fliehen (450.000 Menschen durchqueren den Perthus und müssen von der französischen Regierung „empfangen“ werden, die für die Retirada in diesem Ausmaß nicht vorbereitet war).
– die Logik der Ausgrenzung vom Juni 1940 bis zum Frühjahr 1942. Die Deutschen benutzten selten den Verwahrungsvollzug als Maßnahme, das Vichy-Regime hingegen umso mehr, um die Personen auszuschließen, die vermeintlich für die Niederlage verantwortlich waren. Dieses Handeln war für die französischen Rechtsextremen charakteristisch, die der Meinung waren, dass die Niederlage auf den Zusammenbruch der französischen Gesellschaft selbst zurückzuführen sei, der seit der Französischen Revolution von den „antifranzösischen Kräfte“ (Juden, Kommunisten, Ausländern, Freimaurern) angeregt wurde. Es bringe nichts, den Besatzer zu bekämpfen, um Frankreich zu retten, denn dieser sei nicht die eigentliche Ursache für den Zerfall der französischen Gesellschaft. Vielmehr gehe es darum, die französische Gesellschaft von innen zu regenerieren, indem die traditionellen Werte (Arbeit, Familie, Heimat, Ordnung) wieder zur Geltung kommen.
– die Logik der Deportation für die Vernichtung der Juden Frankreichs vom Frühjahr 1942 bis zur Befreiung 1944: Die Nazis deportieren 75.000 Juden (davon sind 4.000 zurückgekommen) um die „Endlösung“ zu realisieren. Der Fall Frankreichs im besetzten Europa ist einzigartig, da das Vichy-Regime sich bereit zeigt, seine Logik der Ausgrenzung mit der deutschen Logik der Deportation von Juden aus Europa zu verknüpfen.
– erneut die Logik des Ausnahmezustandes vom Sommer 1944 bis 1946: Nach der Landung und bis zur Befreiung befand sich Frankreich fast ein Jahr lang noch in einer besonderen Lage. Wie in der ersten Periode ist die Internierung kein illegales Instrument, da sie durch Gesetze geregelt ist, aber sie ist in einem demokratischen System außergewöhnlich.
=> Angesichts dieser verschiedenen Logikarten ist es schwierig, eine gemeinsame Erinnerungskultur der Internierung in Frankreich zu implementieren.
Der Historiker muss ein Instrumentarium herausarbeiten, das den Menschen hilft, die Realität zu verstehen. Denis Peschanski unterscheidet vier wesentliche „Werkzeuge“.
Kollektives Gedächtnis: Auf der Grundlage der von den anwesenden Schülern formulierten Vorschläge konstruiert Denis Peschanski eine Definition vom „kollektivem Gedächtnis“, dem er fünf Aspekte zuschreibt: Es verweist auf vergangene Ereignisse, hat einen repräsentativen Charakter, indem es von vielen geteilt wird und zu ihrer Identität beiträgt, wenngleich sie selektiv operiert. Erinnerung ist daher Teil der Geschichte. Für den Zweiten Weltkrieg und die Internierungslager gibt es allerdings kein kollektives Gedächtnis in der französischen Gesellschaft.
Bedingungen für die Entstehung einer narrativen Erzählung der Erinnerung: Denis Peschanski reflektiert diese Frage nach Gesprächen mit einem Psychoanalytiker über die „traumatische Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg“. Für Psychoanalytiker bedeutet Trauma, dass sich die Vergangenheit als Gegenwart in der Gegenwart durchsetzt, die Vergangenheit daher keinen Platz im Gedächtnis hat. Wenn das Ereignis in die Vergangenheit verwiesen ist, verliert er seinen traumatischen Charakter. Der Ausdruck „traumatisches Gedächtnis“ entpuppt sich daher als Oxymoron. Was sind die Bedingungen dafür, dass ein von vielen Menschen geteiltes Ereignis zu einem strukturierenden Ereignis des kollektiven Gedächtnisses wird? Denis Peschanski erklärt dies am Beispiel der massiven Flucht von 1940 („exode“), die 8 Millionen Menschen durchgemacht haben. Für Peschanski stellt diese Flucht kein strukturierendes Ereignis des kollektiven Gedächtnisses dar, weil es ein Ereignis ist, das keine Bedeutung hatte, das nicht an der Konstruktion sozialer Identität beteiligt ist. Gilt dies auch für die Internierungslager?
Das Paar starkes / schwaches Gedächtnis: Die Erinnerung an Ereignisse kann entweder stark oder schwach ausgeprägt sein, wobei die Intensität der Erinnerung im Laufe der Zeit schwanken kann. Nur mit Vorsicht sollte man den Begriff „Verdrängung“ („occultation“) verwenden.
Wie funktionniert Erinnerung? („régimes de mémorialité“). In Anlehnung an François Hartogs Begriff der Regelmäßigkeiten der Geschichtlichkeit („régimes d’historicité“) hat Denis Peschanski dieses Konzept herausgearbeitet, um zu zeigen, dass es Phasen der Gedächtnisstabilisierung gibt, dass sich Gedächtniskonfigurationen stabilisieren, dass sie zu bestimmten Zeiten Teil der Geschichte werden. Es gab stets Regelmäßigkeiten des Gedächtnisses, die dazu geführt haben, dass vergangene Ereignisse zu einem anderen Zeitpunkt der Geschichte gedeutet wurden. Dies gilt zum Beispiel für die Résistance oder die Figur des jüdischen Opfers. Der Historiker sollte solche Prozesse nicht bewerten, sondern bloß analysieren.
Regelmäßigkeiten der Erinnerungskultur: Denis Peschanski beschreibt die verschiedenen Etappen der Geschichte der Erinnerung an die Internierungslager.
1944-1949/1950: Alle Erinnerungsformen sind möglich, Gedenkveranstaltungen werden für alle Deportierten, Widerstandskämpfer, Juden…. organisiert, die sich artikulieren konnten. Aber die Erinnerungen sind mehr oder weniger stark. Die Figur des Widerstandskämpfers ist in in diesem Gedächtnis stark repräsentiert. Orte entstehen als strukturierende Elemente des kollektiven Gedächtnisses: Chateaubriand, Compiègne, Buchenwald. Alle Formen von Lagern werden thematisiert, aber das Hauptaugenmerk gilt dem Widerstand.
1950-1958: Alle Erinnerungen verblassen im Zusammenhang mit dem Kalten Krieg und den Kolonialkriegen, auch die des Widerstands und damit die der Internierungslager. Das Interesse für Geschichte ändert sich und der Bezug auf den Zweiten Weltkrieg wird zweitrangig, wenngleich die Erinnerung an den Widerstand immer noch sehr stark ist, ebenso wie die Erinnerung an die Vernichtung, was sich an den Literaturpreisen, die zu diesem Zeitpunkt vergeben werden, belegen ließe (z.B. Goncourt-Preis 1959 für André Schwarz-Barts Le dernier des justes).
1958-1970: Anlässlich der Rückkehr von General de Gaulle an die Macht im Mai 1958 gewinnt die Figur des Widerstandskämpfers wieder an Bedeutung in der Erinnerungskultur, zumal er als Schnittstelle zwischen de Gaulle und den Kommunisten gelten mag. Bestimmte Orte der politischen Inhaftierung und der Deportation werden zu festen Größen des Gedächtnisses.
1970-Mitte der 80er Jahre: Vichy und die Kollaboration werden mittels Filmen wie Le chagrin et la pitié von Marcel Ophüls 1971 oder Français si vous saviez von André Harris 1972 eingehend thematisiert.
1985 – Anfang 2000er Jahre: Eine Erinnerungskultur entfaltet sich, in der die Juden im Mittelpunkt stehen. Die Orte der Erinnerung ändern sich: Taumel, Pithiviers, Beaune-La-Rolande, Auschwitz-Birkenau.
Die Jahre 2000 – Anfang 2010: Diese Form der Erinnerung ist sehr ausgeprägt und wird durch die Entstehung von bedeutsamen Gedenkstätten begünstigt (Mémorial de Drancy, Cercil, Camp des Milles, Mémorial de Rivesaltes….). Gleichzeitig stellt man eine starke Differenzierung der Erinnerungskultur fest, die die verschiedensten Richtungen widerspiegelt (Widerstandskämpfer, jüdische Opfer, Kollaboration, Rolle der leitenden Beamten mit Papon….). Wir werden Zeuge eines Regimes des pluralistischen Gedächtnisses.
Ein solches Gedächtnis entfaltet sich spät, aber Denis Peschanski erinnert uns abschließend daran, dass dies nur verstanden werden kann, wenn wir uns der Vielseitigkeit der Geschichte und der Vielfalt der Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg bewusst werden.
(Hervé Debacker)
Dienstag, 24. Januar 2017 – Salle Gérard Philippe – Orléans
Philippe Oriol „Die Dreyfus -Affäre: ein Fall von Widerstand, ein Fall von Antisemitismus?“
Philippe Oriol ist Spezialist für die Dreyfus-Affäre, zu der er 2014 eine Geschichte der Dreyfus-Affäre von 1894 bis heute (beim Verlag Les Belles Lettres) veröffentlicht hat. In diesem Buch fasst er die Wahrnehmung dieser Affäre von damals bis heute zusammen. Dies wird er auch heute machen. Darüber hinaus will er die Rolle der Intellektuellen, ihren Widerstand und vor allem Dreyfus’ eigenen Widerstand thematisieren. Anschließend wird er sich mit der Bedeutung des Antisemitismus für die Dreyfus-Affäre befassen. Widerstand und Antisemitismus, zwei unter Historikern kontrovers diskutierte Themen.
Ein Jahrhundert Geschichtsschreibung zur Dreyfus-Affäre
Eine Geschichte im Prozess, eine Geschichte, die geschrieben wird, während sie sich ereignet, wie es gewissermaßen auch der Fall mit der Commune war. Die damals durch das Gesetz von 1881 blühende Presse (71 nationale Tageszeitungen und 24.000 Titel der regionalen Tagespresse – heute gibt es nur noch 6 oder 7 heute bzw. 63), gab der Affäre eine ungeheure Resonanz. Die Bedeutung der Affäre wird allmählich konstruiert. So erwähnt Ph. Oriol die siebenbändige Geschichte der Dreyfus-Affäre von Joseph Reinach, deren erster Band 1901 erschien, als der Fall nicht abgeschlossen war. Mittlerweile gibt es laut der Auflistung Vincent Duclerts 18.000 bibliographische Einträge. Und immer noch werden in Frankreich und im Ausland Bücher über eine Affäre veröffentlicht werden, die von Anfang an ein allgemeines Interesse weckte.
Es handelt sich dabei auch um eine Geschichte des Engagements. J. Reinach z. B. war zugleich ein Verteidiger Dreyfus (ein sogenannter Dreyfusard) und ein Gründungsmitglied der Liga für Menschenrechte. Die Dreyfusards veröffentlichten etwa 700 Bücher, die Anti-Dreyfusards hingegen nur etwa zehn, da sie es vorzogen, direktere Medien wie Lieder, Plakate und die Presse zu nutzen. Nur die Action française schenkte ihr zwischen 1906 und den 1930er Jahren – 1935 starb Dreyfus – stetige Aufmerksamkeit.
Anlässlich der ersten Gedenkfeier zur Dreyfus-Affäre im Jahr 1994 wurde ihre Bedeutung für eine erinnerungsbezogene Geschichte deutlich, diente sie zu diesem Zeitpunkt doch der Erinnerung an die „zweite“ Gründung der Republik (Gesetze von 1901 und 1905, Gründung politischer Parteien…).
Seit 1994 stellt Ph. Oriol die Verbreitung einer „fantasievolleren“ und gleichwohl gefährlicheren Geschichte fest: es erscheint jährlich mindestens ein Buch pro Jahr über den Fall, daq eine These verteidigt, die ein neues Licht auf diesen außergewöhnlichen Fall werfen soll (Verneinung der Rolle des Antisemitismus bei der Affäre, vermeintliche Bedeutung der Homophobie usw…). Diese Publikationen sind eher einer von „Wrackforschern“ betriebenen „Literatur des Zweifels und des Misstrauens“ zuzuordnen.
Glücklicherweise finden gleichzeitig ernsthafte Forschungsarbeiten an einer riesigen Masse von Dokumenten und Briefen statt, die zur einer differenzierten Aufarbeitung der Affäre beitragen sollen (siehe Blog der International Society for the History of the Dreyfus Affair), indem sie z. B. auf besondere Aspekte wie den des Widerstands oder des Antisemitismus fokussieren.
Eine Frage des Widerstands
Diejenigen, die Widerstand geleistet haben, indem sie sich der Verteidigung Dreyfus’ gewidmet haben, waren Wissenschaftler, Schriftsteller, Dichter, die beschlossen hatten, sich im politischen und gesellschaftlichen Leben zu engagieren – eine ähnliche Mobilisierung hatte bereits zugunsten von Oscar Wilde stattgefunden. Laut Ph. Oriol (und im Gegensatz zu V. Duclert, der eine Unterscheidung zwischen dreyfusard, dreyfusiste und dreyfusien vornimmt, wobei Bernard Lazare z. B. gleichzeitig diese drei Richtungen vertrat), engagierten sich einige „Intellektuelle“, weil sie von Dreyfus’ Unschuld überzeugt waren; andere wollten eine Revision des Prozesses, unabhängig davon, ob Dreyfus unschuldig war oder nicht, weil das Recht ihrer Meinung nach missachtet worden war. In den Jahren 1894-1895 war nur die Familie von Dreyfus dreyfusard. Clémenceau zum Beispiel war lange Zeit kein dreyfusard, wurde jedoch im Oktober 1898 einer, um eine Revision des Prozesses zu ermöglichen. Ph. Oriol zitiert auch das Beispiel von Paul de Cassagnac, einem Journalisten und Bonapartist, der zudem Antisemit war, aber wegen der Illegalität des Verfahrens für die Rehabilitierung von Dreyfus plädierte (Dreyfus wurde verurteilt, ohne Einsicht in seine Akte nehmen zu dürften). Für die anti-dreyfusard war eine Revision des Verfahrens hingegen ausgeschlossen, da man sonst hätte zugeben müssen, dass die Armee Fehler machen kann.
Intellektuelle haben sich vielfach engagiert, sie haben zahlreiche Petitionen unterzeichnet, sie haben versucht, Anti-Dreyfuser zu überzeugen, und sie haben mehr als 700 Treffen in einem Jahr in den Großstädten Frankreichs organisiert (gleichwohl war die Dreyfus-Affäre hauptsächlich in Paris spürbar. Nur als es zu antisemitischen Demonstrationen kam, wurde ganz Frankreich involviert). Nicht zuletzt haben die Intellektuellen die sogenannte Liga für Menschenrechte gegründet. In einigen Fällen durften hohe Beamte allerdings, wie Ph. Oriol es hervorhebt, Dreyfus nicht unterstützen, um die Institution, zu der sie gehörten, nicht einzubeziehen. Schlussendlich ist die berühmte Zeichnung von Caran d’Ache zu relativieren: Die von ihm karikierte Spaltung betraf nur einen kleinen Teil der Bevölkerung. Die meisten wurden dieser Affäre allmählich überdrüssig.
Alfred Dreyfus’ Widerstand ist laut Ph. Oriol der interessanteste Fall. Alfred Dreyfus wurde oft als etwas farbloser und enttäuschender Charakter beschrieben. Ph. Oriol möchte ihn diesbezüglich rehabilitieren: Dreyfus habe perfekt verstanden, was mit ihm geschah, aber seine Schüchternheit und Zurückhaltung verhinderten, dass er sich demonstrativ wehrte: ihm habe der Sinn für die Inszenierung gefehlt. Dennoch hat sich Alfred Dreyfus während der vier Jahre tatsächlich gewehrt, die er, umgeben von 25 Wachleuten, unter schrecklichen und völlig illegalen Haftbedingungen auf der Teufelsinsel verbracht hat, als ihm alles verwehrt wurde (Rauchen, Schreiben, das Meer sehen, Besuche von seiner Familie…) Dreyfus widersetzt sich jeden Tag, weil er eigentlich die Hierarchie respektiert (er bleibt durch und durch Soldat) und er schreibt trotz der Zensur und der Tatsache, dass nur wenige seiner Briefe weitergeleitet werden, um am Leben festzuhalten, um seine Frau und seinen Vater zu schützen, um die Ehre seines Namens und seiner Familie wiederherzustellen. Er widersetzt sich auch, weil er entdeckt, dass er viel jüdischer ist, als er dachte.
Ein antisemitischer Fall?
Viele Historiker streiten kontrovers über die tatsächliche Rolle des Antisemitismus in der Dreyfus-Affäre. Für V. Duclert sei der Antisemitismus eher „nebensächlich“. Ph. Oriol ist der Meinung, dass der Antisemitismus nicht alles erkläre, dass er sogar vielleicht sekundär sei. Viele dreyfusard (wie Oberst Picquart oder Fernand Labori, der Anwalt von Zola) waren antisemitisch; umgekehrt waren viele antidreyfusard nicht antisemitisch. Nur hieß Dreyfus allerdings Dreyfus. Und wenn Dreyfus nicht per se verurteilt wurde, weil er Jude war, so bleibt sein Judentum ein bedeutsamer Aspekt der Affäre.
Es herrschte in der damaligen französischen Gesellschaft ein diffuser Antisemitismus in der Gesellschaft. Während der Dreyfus-Affäre wurden fünf Juden ermordert (allerdings in Algerien). Und antisemitische Vorurteile waren tief verankert. Die Arbeiten von Pierre Birnbaum (Le moment antisémite, un tour de la France en 1898, 1998), Vincent Duclert oder Betrand Joly (Histoire politique de l’Affaire Dreyfus, 2014) ermöglichen es, diesen Antisemitismus zu analysieren und bestimmte Aspekte zu relativieren, insbesondere die Art und Weise, wie Juden auf den Fall reagiert haben. Im Gegensatz zu einigen vorgefassten Ideen, die beispielsweise 1936 von Léon Blum verbreitet wurden, leisteten die Juden wirklich Widerstand, insbesondere durch die Schaffung eines Komitees zur Verteidigung gegen den Antisemitismus. Dieser Aspekt blieb lange unterbelichtet, da die Mitglieder des Ausschusses oft Beamte waren, die sich nicht offiziell engagieren durften. Darüber hinaus wollten sie vermeiden, dass antidreyfusard die Existenz dieses Komitees als Argument gegen Dreyfus verwenden. Das Komitee wurde von Bernard Lazare geleitet und kämpfte gegen den Antisemitismus, indem es Bücher und Zeitungen veröffentlichte (Le Journal du peuple) und Kandidaten bei Wahlen diskret und inoffiziell unterstützte.
Philippe Oriol beendet seinen Vortrag mit der schelmischen Feststellung, dass wir gerade erst anfangen, etwas über die Dreyfus-Affäre zu wissen: Es werden immer neue Dokumente entdeckt, die den Fall in Frage stellen. Noch sind nicht alle Quellen systematisch untersucht worden. Mit Vincent Duclert, Bertrand Joly und vielen anderen Autoren veröffentlichte Ph. Oriol 2017 das Dictionnaire biographique et géographique de l’Affaire Dreyfus (Projektstart 1999). Und während das CNRS der Ansicht ist, dass über den Fall „nichts mehr zu erfahren gibt“, untersuchen ihn 21 Forscher in Japan!
(Christine Blet)